Female Mobility
Gender ist einer der stärksten und robustesten Bestimmungsfaktoren für die Verkehrsmittelwahl und hat einen enormen Einfluss auf unsere gesamte Mobilität.Trotzdem ist unsere heutige Mobilitätsplanung stark von der männlichen Sichtweise geprägt.
“Die Pendlerwege und damit die Alltagsmobilität vorrangig von vollzeitbeschäftigten Männern dürfen nicht länger das Maß aller Planungen sein. Solange die Wege und damit die Mobilitätsbedürfnisse insbesondere von Frauen nicht berücksichtigt werden, bleiben inklusive Angebote die Ausnahme.”
Ines Kawgan-Kagan
Mobilität ist nicht gender-neutral
Seit den 50er Jahren ist die städtische Infrastruktur auf das Auto und auf berufliche Wege ausgerichtet und vernachlässigt (unbewusst) die Bedürfnisse von vielen Verkehrsteilnehmenden, die kein Auto haben bzw. aus anderen Gründen mobil sind als zur Arbeit zu fahren. Die oft linearen oder sternförmig aufgebauten Verkehrsverbindungen der Städte sind meist für ein bestimmtes Mobilitätsbild ausgelegt: erwachsene Person, vollzeitbeschäftigt, und eben männlich.
Historisch gesehen wurde die Mobilität von Frauen oft vernachlässigt, da der Verkehrssektor traditionell von Männern dominiert wurde. Die Planung von Infrastrukturen und Verkehrssystemen basierte über Jahrzehnte hinweg auf den Mobilitätsmustern von Männern und deren Bedürfnissen; jene von Frauen wurden lange Zeit nicht berücksichtigt, da es an Frauen in Entscheidungspositionen und an Bewusstsein für geschlechterspezifische Unterschiede in der Mobilität fehlte. Die Mobilitätsbedürfnisse von Frauen wurden nicht in Planungsprozessen einbezogen. Die mangelnde Awareness für diese Unterschiede hat dazu geführt, dass Frauen im Alltag mit Hürden konfrontiert wurden, die ihre Mobilität einschränkten, wie unsichere Verkehrsinfrastrukturen, unzureichende Beleuchtung oder fehlende Barrierefreiheit. Erst in den letzten Jahren wächst das Bewusstsein für die Notwendigkeit, gendersensible Mobilitätskonzepte und -angebote zu entwickeln, um eine inklusive und gerechte Mobilität für alle zu gewährleisten.
Der Gender Data Gap
Der Gender Data Gap ist dabei ein grundlegendes Problem und bezeichnet die systematische Unterrepräsentation oder Verzerrung von Daten in Bezug auf Geschlechterunterschiede. Einerseits sind hierbei zu wenig Frauen in den Datensätzen vertreten, andererseits sind viele Fragen oder Informationen meist so gefasst, dass sie die Lebensrealität vieler Frauen nicht widerspiegeln. Dies führt dazu, dass wichtige Informationen über die Bedürfnisse, Verhaltensweisen und Erfahrungen von Frauen und anderen Geschlechtsidentitäten nicht ausreichend erfasst oder berücksichtigt werden. Verzerrte Daten dienen beispielsweise auch als Basis für Mobilitätsapps und Routenplaner. Hinter Routenempfehlungen stehen Algorithmen und Suchlogiken, welche auf den Verhaltensmuster von meist männlichen Reisenden basieren und ideal auf deren Mobilitätsbedürfnisse zugeschnitten sind. Darüber hinaus zeigt sich der Gender Data Gap auch bei der Fahrzeugsicherheit, da Daten zu den Auswirkungen von Unfällen hauptsächlich auf männlichen Crash Test Dummies basieren.
Eine Untersuchung von 100 Mobilitätsunternehmen im deutschsprachigen Raum - Deutschland, Österreich und der Schweiz - zeigt zudem, dass ein Drittel der Unternehmen gar keine Informationen zu Alter, Geschlecht oder Wohnort der Nutzerinnen und Nutzer erheben und nur 17% der Unternehmen vorhandene Daten auf geschlechtsspezifische Verhaltensunterschiede untersuchen.
Damit verbunden ist das Grundproblem der mangelnden Sichtbarkeit von Frauen aufgrund ihres geringen Anteils von 22% in Mobilitätsunternehmen. Je mehr Beschäftigte ein Unternehmen hat, desto geringer fällt der Frauenanteil aus. Außerdem sind etwa doppelt so viele Frauen im Marketing und im Personalwesen tätig als im Management und in der Produktentwicklung. Je mehr Frauen jedoch im Management der Unternehmen tätig sind, desto höher ist der Frauenanteil unter den Beschäftigten und desto mehr Frauen nutzen das Angebot.
Warum Female Mobility?
Die Forschungslandschaft zeigt auch, dass Lösungen, bei denen die Genderfrage nicht ausdrücklich in den Stadt- und Verkehrsplanungsprozess einbezogen wird, mit großer Wahrscheinlichkeit in erster Linie Männern zugute kommen. Dabei wissen wir, dass Frauen ein anderes Mobilitätsverhalten und andere Anforderungen an Mobilitätsangebote haben als Männer. Zahlreiche Studien zeigen, dass Frauen andere Bedürfnisse und Voraussetzungen haben:
1
Care Arbeit
Frauen leisten immer noch den Großteil der anfallenden Sorgearbeit, auch wenn sich Männer zunehmend an Kinderbetreuung und Angehörigenpflege beteiligen. Versorgung und Pflege von Personen gehen meist mit dem Transport von Einkäufen und der Begleitung von Personen einher. Diese Mobility of Care zeichnet sich z.B. auch durch höhere Anforderungen an die Barrierefreiheit der Infrastruktur aus.
2
Gender Pay Gap
Frauen haben aus verschiedenen Gründen einen schlechteren Zugang zu Ressourcen wie Zeit, Geld, aber auch Ausbildung und Technologien.Sie verdienen immer noch deutlich weniger als Männer, wie der Gender Pay Gap belegt.
3
Andere Erfahrungen
Nicht zu vernachlässigen sind auch die spezifischen Erfahrungen von Frauen, wenn sie mobil sind. Beispielsweise ist die Nutzung des öffentlichen Verkehrs in der Nacht für viele Frauen mit Angst vor Übergriffen verbunden. Und das hat Auswirkungen darauf, wann, wo und mit welchem Verkehrsmittel Frauen unterwegs sind und welche Angebote sie benutzen.
Aus diesen und weiteren Voraussetzungen resultieren Unterschiede in den Bewegungsmustern und der Verkehrsmittelwahl von Frauen. Daraus können wir Schlüsse für die Gestaltung einer nachhaltigen Mobilität ziehen. Wichtig dabei sind nicht nur die Bedürfnisse von Frauen, sondern aller Menschen mit anderen Mobilitätsbedürfnissen als dem reinen Pendeln vom Wohn- zum Arbeitsort. Der Blick auf Female Mobility erlaubt uns, zugrunde liegende Strukturen zu erkennen und Lösungen zu entwickeln, die für alle gut sind - nicht nur für Frauen.
10 Fakten zu Female Mobility
1. Mehr Wegeketten
2. Kürzere Strecken in Wohnortnähe
Menschen, die Sorgearbeit leisten, legen häufiger Wegeketten statt einfachen (Pendelstrecken zurück. Das bedeutet zum Beispiel, dass sie auf dem Weg von der Arbeit nach Hause noch mehrere Stopps einlegen, wie an der Pflegeeinrichtung, am Supermarkt und am Sportverein des Kindes. Diese Stopps befinden sich meist im näheren Wohnumfeld. Dementsprechend sind Frauen und alle, die Sorgearbeit leisten, stärker auf engmaschige Fuß- und Radwege angewiesen.
Frauen haben in ihrem alltäglichen Mobilitätsverhalten eine geringere Reichweite als Männer. Dies liegt u.a. an der im Wohnumfeld ausgeführten Sorgearbeit. Dadurch wählen Frauen eher Jobs im näheren Wohnumfeld, um die unbezahlte Arbeit erledigen zu können. Männer fahren aufgrund der längeren Arbeitswege im Schnitt doppelt so weit wie Frauen. In Österreich auf dem Land finden 20% der Frauen schwierig einen Job deswegen, versus 13% der Männer.
3. Mehr ÖPNV - weniger Auto
4. Mehr Multimodal
In den meisten Familien wird das erste Auto im alltäglichen Gebrauch häufiger vom Mann genutzt. Sofern vorhanden, steht das Zweitauto dann meist der Frau zur Verfügung. Laut Kraftfahrtbundesamt sind 62 % der Autos auf Männer zugelassen und nur 38 % auf Frauen. Gleichzeitig sind 53% der ÖPNV-Nutzerinnen in Deutschland und 64% in Österreich Frauen - weltweit sind es sogar 66%.
Frauen haben hohe Anforderungen an Mobilität und seltener Zugang zu einem Auto. Daher sind sie häufig multimodal unterwegs. Sie nutzen je nach Wegezweck das jeweils für sie am besten geeignete Verkehrsmittel: zu Fuß zum Einkaufen, mit den Kindern das Auto und zum Büro mit Bus oder Bahn.
5. Unter Zeitdruck mobil
6. Höheres Sicherheitsbedürfnis
Menschen, die unbezahlte mit bezahlter Arbeit kombinieren, haben einen sehr komplexen Alltag. Ihr Anspruch an Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit ist sehr hoch und ein wichtiges Kriterium bei der Wahl des Verkehrsmittels. Die Kinder müssen pünktlich in der Schule sein und auch sie selbst beim Termin im Büro. Neben dem Zeitdruck ist besonders ein nahtloser Übergang zwischen Verkehrsmitteln wichtig, der nebenbei auch die Barrierefreiheit erhöht.
Frauen fühlen sich im öffentlichen Raum und im ÖPNV öfter unsicher. Sie befürworten daher auch eher vermehrte Kontrollen und Sicherheitspersonal im öffentlichen Verkehr. Damit Frauen sich sicher fühlen, ist auch die letzte Meile wichtig, d.h. der Fußweg von der U-Bahn-Station nach Hause. Studien zufolge fühlen sich 1 von 3 Frauen unsicher auf der Straße. Auch zeigt sich, dass Frauen sich häufiger an Verkehrsregeln halten und z.B. Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen positiver gegenüberstehen.
7. Höheres Verletzungsrisiko
8. Kaum Nutzung neuer Mobilitätsangebote
Der durchschnittliche Crashtest-Dummy der Automobilindustrie ist traditionell an den Körpermaßen eines durchschnittlichen Mannes orientiert. Die weibliche Testpuppe stellt dabei eine verkleinerte Version des Durschnittsmannes dar und ist leichter als eine durchschnittliche 12-Jährige. Von den fünf Sicherheitstests, die ein Automodell in der EU vor der Zulassung durchlaufen muss, wird bisher meist nur ein Test mit einem weiblichen Dummy durchgeführt, wobei dieser dann auf dem Beifahrersitz Platz nimmt. Dies führt dazu, dass Frauen bzw. kleinere Menschen bei Unfällen deutlich höher gefährdet sind. Wird eine Frau in einen Autounfall verwickelt, ist ihr Risiko schwer verletzt zu werden 47 % höher als das eines Mannes, das Risiko einer mittelschweren Verletzung ist um 71 % erhöht.
Frauen nutzen weniger häufig neue Mobilitätsangebote wie Carsharing oder Ridepooling aber auch Mikromobilitätsangebote wie e-Scootersharing. Diese sind für den Alltag vieler Frauen nicht praktikabel. Gerade die Begleitung von Kindern ist mit solchen Angeboten kaum oder gar nicht möglich. Frauen und ihre Bedürfnisse werden selten in die Entwicklung innovativer Mobilitätsangebote einbezogen. Es zeigt sich ein klar männlich dominiertes Marktsegment. Zum Beispiel sind lediglich ein Fünftel der User von Carsharing Frauen.
9. Stadt der Männer
Viele Städte sind sternförmig geplant und aufgebaut. Die Verkehrsverbindungen führen von den Wohngebieten im Vorort zur Arbeitsstätte in der Innenstadt. Diese Art der Infrastruktur ist nur für eine kleine Gruppe pendelnder, meist männlicher Personen optimal. In einigen Städten wird dieses Denken bereits umgedreht, zum Beispiel mit dem Konzept der Superblocks in Barcelona oder der 15-min-City in Paris. Mobility of Care wird in der Planung derzeit kaum berücksichtigt.
10. Priorität Autoverkehr
Das (männliche) Auto und die dazugehörige Infrastruktur werden häufig zu Lasten aller anderen Verkehrsteilnehmenden bevorzugt. Das zeigt sich bei den Ampelschaltungen oder auch zum Beispiel beim Schneeräumen in Deutschland, da Autospuren priorisiert werden, obwohl die Unfallgefahr und Anstrengung für Menschen zu Fuß und Radfahrende auf ungeräumten Wegen ungleich größer ist. Auch bei der Verkehrsplanung zeigt sich ein persistenter Fokus auf Infrastruktur für mit dem Auto zurückzulegenden Pendelstrecken.
Illustrationen von Heloise Villoteau
Mobilität für alle braucht vielfältige Perspektiven
Vielfältige Perspektiven auf Mobilität helfen uns allen
Frauen sind keine homogene Gruppe – ihre Mobilitätsbedürfnisse sind ebenso unterschiedlich wie die der gesamten Bevölkerung. Die explizite Einbeziehung weiblicher Perspektiven kann dazu beitragen, die Vielfalt menschlicher Mobilitätsanforderungen sichtbarer zu machen. Die Berücksichtigung der Genderperspektive während des gesamten Planungsprozesses – von der Gestaltung über die Umsetzung bis hin zur Überwachung und Bewertung – erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Lösungen entstehen, die für alle gerechter und inklusiver sind. Denn am Ende haben Familienväter mit Kinderwagen im öffentlichen Nahverkehr ähnliche Mobilitätsbedürfnisse wie Frauen oder Jugendliche, die nachts unterwegs sind und sich in dunklen Umgebungen sicher fühlen wollen. Auch Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen bringen vielfältige Ansprüche mit, die bislang zu wenig gesehen werden.
Es ist wichtig, dass die weibliche Perspektive in Verkehrsplanungsprozesse und Produktentwicklungen einfließt durch diverse Teams und Entscheider*innen sowie bei Partizipationsprozessen. Darüber hinaus müssen genderspezifische Daten mehr genutzt werden und bei den Verantwortlichen das Bewusstsein dafür gestärkt und entsprechende Kompetenzen aufgebaut werden. Genauso wichtig ist es, den Blick auf bedürfnisorientierte Mobilität zu richten. Nur so kann eine Mobilität gewährleistet werden, die alle Menschen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen berücksichtigt. Am Ende profitieren davon alle – die gesamte Gesellschaft. Wenn wir wirklich nutzungsbasierte und bedarfsorientierte Mobilitätsangebote schaffen, leisten wir einen wichtigen Beitrag zu Teilhabe, Daseinsvorsorge und sozialer Gerechtigkeit.
Lasst uns sprechen
Geschäftsführerin AEM Institute GmbH und Expertin für Gender und Mobilität
"Frauen sind keine schutzbedürftige Usergroup, nur weil sie nicht dem männlichen Standard entsprechen. Bei der Entwicklung von Mobilitätsangeboten sind Gender und Diversity von Anfang an mitzudenken."
Product Manager Strategy
Stadtwerke München
"Wir müssen aufhören, über Personas nachzudenken, und anfangen, uns auf die Bedürfnisse von Reisenden zu konzentrieren. Denn Bedürfnisse haben kein Geschlecht."
Quellen
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Barry, The Crash Test Bias: How Male-Focused Testing Puts Female Drivers at Risk, 2019.
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Bellmann, Polack, Ypma, Female Mobility — a Longread, 2019.
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CIVITAS. 2020. Smart choices for cities, gender equality and mobility: mind the gap!
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Darum ist Shared Mobility nicht für Frauen gemacht. EMMET, 2021.
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Der Gender (Mobility) Data Gap – eine Definition von Ines Kawgan-Kagan
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Ettema, Verschuren; Multitasking and Value of Travel Time Savings, 2007.
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European Comission, Women in Transport – EU Platform for change, 2017
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Vanessa Vu, “Die Männliche Stadt”, Artikel der Zeit, 2019.
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Scheiner, Joachim / Holz-Rau, Christian (2017): Women's complex daily lives: a gendered look at trip chaining and activity pattern entropy in Germany. In: Transportation 44(1), S. 117-138.
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Sustainable Mobility for All, Global Mobility Report, 2017.
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DG Move, Quality of Transport Report, 2014.
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Yavuz, N., & Welch, E. W., Addressing fear of crime in public space: Gender differences in reaction to safety measures in train transit, 2010.
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Zografos et al, The everyday politics of urban transformational adaptation: Struggles for authority and the Barcelona superblock project, 2020.
Co-FounderImpact Strategy Firm
HELLO IMPACT
"Nachhaltige Mobilität lässt sich nur durch Kollaboration umsetzen. Wenn wir die Perspektiven der Anderen einnehmen können, öffnet sich der Weg zu Innovation."