Vor einem Monat, am 4. Oktober 2024, erschien „Gesellschaft in Bewegung“ von Professor Dr. Marco te Brömmelstroet. Die BBC nennt es eine „revolutionäre Sicht auf Mobilität“, De Groene Amsterdammer spricht von „Alice im Verkehrswunderland“. Im Interview erklärt der „Fahrradprofessor“: „Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir über Menschen sprechen, nicht über Mobilität.“
Professor Dr. Marco te Brömmelstroet, bekannt als der Fietsprofessor, hat kürzlich sein neuestes Buch mit dem Titel „Gesellschaft in Bewegung“ veröffentlicht.
Das Buch, das er gemeinsam mit Thalia Verkade geschrieben hat, ist ursprünglich auf niederländisch erschienen. Der Titel „Het Recht van de Snelste“ (deutsch: „Das Recht des Schnellsten“). Für die deutsche Übersetzung wurde das Werk aktualisiert, überarbeitet und um Details aus Deutschland ergänzt.
Den Originaltitel habe er nie so recht gemocht sagt Marco. In anderen Sprachen heiße das Buch Bewegung oder Gesellschaft in Bewegung. Was dem, was er vermitteln wolle, viel näherkomme.
Laut ihm ist Mobilität zwar ein faszinierendes Thema, aber die meisten Menschen fühlten sich von dem Begriff und der Diskussion drumherum nicht angesprochen.
„Sobald etwas als ‚Mobilitätsplan‘ bezeichnet wird, kann ich schon vorhersagen, wie die Diskussion verlaufen und wer dagegen sein wird“, sagt er und fährt fort: „Wir blockieren uns selbst, weil wir nicht die breite Masse der Bürger aktivieren.“
Ein Beispiel für einen ansprechenden Ansatz sei die Initiative „Kiddical Mass“, die sich für die Autonomie von Kindern einsetzt. „Hier geht es um Probleme, die wir alle kennen, wie mentale, physische und soziale Gesundheitsprobleme von Kindern. Das spricht viel mehr Menschen an als Autoverbote und Diskussionen über Radwege“, betont er.
Die Idee, Mobilitätspläne durch kinderfreundliche oder gemeinschaftsorientierte Pläne zu ersetzen, hält er für entscheidend. „Das Hauptziel sollte das Wohl unserer Kinder und die Qualität öffentlicher Räume sein“, fordert er.
Das ist das größte Dilemma in meinem Leben: Ich sage, wir sollten nicht über Mobilität sprechen, schreibe aber ein Buch über Mobilität, das wahrscheinlich nie von denen gelesen wird, die keine Mobilitätsexperten sind. Wenn die Leute in einer Buchhandlung ein Buch über Verkehr oder Mobilität sehen, denken sie sofort: Das ist langweilig. Verkehr, Parkplätze, Autos, Fahrräder – all diese Begriffe haben wir in den letzten Jahrzehnten als technokratische Expertenthemen dargestellt.
Dr. Marcoo te Brömmelstroet, Professor für Stadtplanung an der Universität Amsterdam und akademischer Direktor des Urban-Cycling-Institute
Marco hebt hervor, dass das gegenwärtige Mobilitätssystem oft von einer kleinen, lautstarken Gruppe dominiert werde. „Wir nehmen oft an, dass die Gruppe derjenigen, die ihre Meinung lautstark vertreten – meistens Männer mittleren Alters, die ihr Recht verteidigen, auf deutschen Autobahnen schnell zu fahren –, die Mehrheit repräsentiert. Aber das sind sie nicht“, sagt er. Wenn es einer Gesellschaft gelinge, die Diskussion hin zu den Menschen zu verschieben, die von weniger Autos, kleineren Autos und langsamerem Verkehr profitieren würden, seien auch die verkehrspolitischen Lösungen klar. Aber „diese Menschen sind momentan nicht Teil der Diskussion.“
Er beschreibt die gegenwärtige Situation als besorgniserregend. „Das gesamte System, das wir aufgebaut haben, besteht aus erdölbasierten Materialien und ist nicht mehr tragfähig“, erklärt er. Das gelte nicht nur für Autos mit Verbrenner-Motoren sondern für die gesamte Mobilitätsinfrastruktur. „Unsere Verkehrssysteme wurden in den letzten 70 Jahren aus Beton, Stahl und Asphalt errichtet – alles Materialien, die ohne Öl nicht hergestellt werden können. Dieses System zerfällt, und es fehlen Geld und Arbeitskräfte, um es zu erhalten“, sagt er.
Das könne man überall sehen, auch in Deutschland: Straßen, Brücken und Gleise verfallen. Diese Entwicklung werde sich weiter verstärken. Er ist überzeugt: „Das ist die düstere Zukunft, die uns bevorsteht – das System wird zerbröckeln.“ Nun könne man weitermachen wie bisher und mit Vollgas in eine Sackgasse rasen – oder man müsse neue Symbole finden, die helfen, die Gesellschaft zu mobilisieren und über eine bessere Zukunft nachzudenken. Eine Zukunft, in der das System nicht von einer Krise in die nächste rutsche.
Andere europäische Städte und Länder machen vor, wie es geht
Die Veränderungen, die er anstrebt, sind bereits in den Niederlanden sichtbar, wo Städte versuchen, ihre Beziehung zu Autos zu ändern. Man habe Kinderrechte an die erste Stelle gesetzt. Um Kindern zu ermöglichen, sich selbstständig und sicher durch Städte zu bewegen, müssen Autos in den Innenstädten weniger werden.
„Viele Städte könnten Autos verbannen, tun es aber nicht. Der Schlüssel liegt darin, den vollen Preis für Besitz und Nutzung zu verlangen – das würde 40 % bis 60 % der unnötigen Autos verschwinden lassen. Doch Politiker glauben immer noch, es gäbe eine Mehrheit, die das Auto liebt und darauf nicht verzichten will. Die Realität sieht anders aus. Und selbst wenn es wahr wäre, lieben die Menschen auch ihre Kinder, ihre Hunde, ihre Städte und ihre Familien. Warum reden wir also nicht darüber?
Dr. Marcoo te Brömmelstroet, Professor für Stadtplanung an der Universität Amsterdam und akademischer Direktor des Urban-Cycling-Institute
Ein anderes, beeindruckendes Beispiel für erfolgreichen Wandel sei Paris unter der Führung von Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Ihre Maßnahmen, wie das Pflanzen von 170.000 Bäumen und die Einrichtung von 300 autofreien Schulstraßen, zeigen, dass Städte ohne Autos lebenswerter sein können. Andere Städte wie Groningen und Ljubljana folgen diesem Vorbild. Der Schlüssel zum Erfolg liegt ihm zu Folge im Mut zur Veränderung, klarer Kommunikation und der Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen – anstatt Angst vor Wandel zu haben.
Während Marco provokativ argumentiere und streitlustig sei, habe seine Co-Autorin Thalia ihm gezeigt, wie wichtig es ist, Menschen einfühlsam durch solche Veränderungsprozesse zu begleiten. Deshalb brauche die Verkehrswende zuallererst neue Symbole und Narrative, die nicht mehr um Autos oder Parkplätze kreisen. „Ich glaube, wir können das umsetzen“, sagt er mit Nachdruck. „Wir müssen erkennen, dass wir feststecken, dann können wir Veränderungen bewirken.“
Radentscheid – Baumentscheid - Kinderentscheid
„Das Fahrrad könnte Teil der Lösung sein, um unsere Städte lebenswerter zu gestalten“, betont er und verweist auf das Symbolpotenzial des Fahrrads, insbesondere in Deutschland. Ein Beispiel dafür ist Heinrich Strößenreuthers Arbeit am „Radentscheid“, die er nun mit dem „Baumentscheid“ fortsetzt. Marco schlägt vor, dass der nächste Schritt ein „Kinderentscheid“ sein könnte, bei dem das Wohl der Kinder im Mittelpunkt steht.
„Anstatt Mobilitätspläne für Städte wie Köln zu erstellen, sollten wir Pläne für Kinder oder öffentliche Räume entwickeln, in denen Mobilität nur ein Aspekt ist“, sagt er weiter. Das Hauptziel müsse die Lebensqualität und das Wohl unserer Kinder sein. Nicht die Straßenplanung oder Parkplatzdichte.
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