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“Gerechte Mobilitätsangebote sind wichtig für Demokratie und Gesellschaft”

Seit Dezember 2021 ist unsere Mobilmacherin der Woche, Christine Wenzel, Director Public Policy für Osteuropa und den deutschsprachigen Raum bei TIER Mobility. Ihre Aufgabe: Lösungen für gesellschaftliche und politische Anforderungen an nachhaltige Mobilität zu finden. Ihre Mission: Freie Verkehrsmittelwahl statt Abhängigkeit vom Auto.



Auf der letzten Meile elektrisch unterwegs: Seit Juni 2019 sind eScooter auch in Deutschland zugelassen. Gerade in Großstädten ergänzen Sharing-Angebote im Bereich der Mikromobilität - Roller genau wie Fahrräder - das existierende Mobilitätsangebot.

Anbieter wie Bird, Circ, Jump, Lime, Tier oder Voi verbuchten in Deutschland im Jahr 2021 Umsätze von rund 1,1 Millionen Euro mit eScooter-Sharing. Die zunehmende Nutzung der eScooter führt allerdings auch zu Problemen. So sind im vergangenen Jahr beispielsweise mehr als hundert eScooter in Köln aus dem Rhein geborgen worden. Oft liegen die Roller als Stolperfallen auf dem Gehweg.


Anbieter wünschen sich Ausschreibungen und Regulierungen

“Ich verstehe den Unmut über die Scooter, die überall herumliegen. Hier wünschen wir uns von den Städten und Kommunen eine qualitative Auswahl der Anbieter und stärkere Regulierungen”, sagt Christine Wenzel, Director Public Policy für Osteuropa und den deutschsprachigen Raum bei TIER Mobility. Anders als im Ausland könne hierzulande jedes Unternehmen aus dem Mikromobilitätsbereich machen, was es wolle.

Damit sei Deutschland eines der letzten großen Länder, in denen es für Anbieter von Mikromobilität keine kommunalen Ausschreibungen gebe. “In Paris, London oder Dubai zum Beispiel gibt es Ausschreibungen. Dort sind dann zwei bis drei Anbieter am Markt, die bestimmte nachhaltige, aber auch soziale Standards erfüllen müssen. Das wünschen wir uns hier auch”, sagt Wenzel.


Uns ist es wichtig, dass unsere Angestellten feste Arbeitsverträge haben und dass der Scooter-Lebenszyklus nachhaltig ist - und zwar entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Auch dass sie einem Second Life zugeführt werden können, spielt für uns eine Rolle. Aber gefordert wird das von den Städten nicht.

Christine Wenzel, Director Public Policy CEE & DACH bei TIER Mobility


Wenzel arbeitet erst seit Dezember 2021 bei Tier Mobility. Zuvor war sie Head of Corporate Affairs bei Hewlett-Packard, stv. Referatsleiterin im Bundeswirtschaftsministerium und Government Relations Managerin bei SAP in Brüssel. Schon im Studium habe ihr Schwerpunkt auf Politik und Technologie gelegen.

“Jetzt bei TIER habe ich vor allem eine Übersetzungsfunktion: Mein Job ist es, was gesellschaftlich und politisch gewollt ist in Bezug auf Mobilität in Handlungsempfehlungen für uns zu übersetzen und gleichzeitig innovative Ideen aus dem Sektor in die Politik zu spiegeln.”


Ihre Aufgabe sei es, zu fragen, warum wir Dinge so machen, wie wir sie machen und ob andere Lösungen nicht genauso gut - wenn nicht sogar besser - wären.

Wenzel gibt ein Beispiel: “Deutschland ist sehr Privat-PKW zentriert. Das Auto ist überall privilegiert: es verbraucht Platz, schädigt die Umwelt, aber das wurde nie hinterfragt.”

Auch in finanzieller Hinsicht sei es unfair, Mobilität mit dem eigenen Auto gleichzusetzen. Sie sagt: “Ärmere Menschen können sich kein Auto leisten, aber andere Verkehrsmittel wurden bislang kaum gefördert. Der eScooter bekommt momentan viel Aufmerksamkeit, aber es herrscht eine regelrechte Nichtwahrnehmung anderer Fahrzeugarten hinsichtlich Unfallstatistik, Fehlverhalten im Verkehr oder Falschparken.”

In der Diskussion um Mobilitätsangebote gibt es zahlreiche Gruppen, die gar nicht erst gesehen werden: Kinder, ältere, blinde Menschen - für die ist ein eigenes Auto keine Lösung. Gerechte Mobilitätsangebote zu schaffen, ist deshalb wichtig für Demokratie und Gesellschaft.

Christine Wenzel, Director Public Policy CEE & DACH bei TIER Mobility


Für ihren Wechsel in die Mikromobilität habe sie auch einen ganz privaten Antrieb gehabt. Sie sagt: “Meine Kinder fahren mit dem Rad zur Schule und in die Kita, da bricht mir schon manchmal der Angstschweiß aus, ob die heil ankommen. Daher habe ich eine starke persönliche Motivation, das Autoprivileg zu shiften.”


Weg mit der Abhängigkeit vom Auto

Dabei sei sie keineswegs gegen Autos. Was sie sich wünscht, ist dass Menschen die freie Wahl zwischen gleichberechtigten Verkehrsmitteln haben und nicht vom Auto abhängig sind. “Wenn ich an meine Mama in meiner thüringischen Heimat denke, die könnte gar nicht ohne Auto. Oder meine Oma, die immer jemanden fragen muss: Kannst du mich zum Arzt fahren, fährst du mich zur Apotheke, fährst du mich zum Einkaufen? Sie ist total abhängig davon, dass sie jemand mitnimmt - und das ist ein ungutes Konstrukt.”

Bis diese Abhängigkeit auch in ländlichen Regionen überwunden sei, werde es zwar noch lange dauern. Das Ziel, faire, nachhaltige und umweltfreundliche Angebote für alle zu schaffen, sollte man sich dennoch heute schon setzen, sagt Wenzel.


Tier Mobility wolle in den Innenstädten wie auch in den Speckgürteln und in kleineren Städten ein zusätzliches, nachhaltigeres Mobilitätsangebot schaffen, damit die Menschen nicht mehr auf das Auto angewiesen sind. Das Unternehmen arbeite deshalb mit den Kommunen zusammen und unterhalte viele Partnerschaften mit dem ÖPNV. “Wir verstehen uns als ein Puzzleteil, das zu einem multimodalen Mobilitätsmix gehört”, sagt Wenzel. “Wir werden das Auto nicht ersetzen und wir werden und wollen den ÖPNV nicht ersetzen. Aber für eine nachhaltige Mobilitätswende braucht es alle Akteure: von der Mikromobilität bis zu den Anbietern für die lange Strecke.”


Wenn wir über Fahrzeuge jenseits des Autos diskutieren, geht es immer nur darum, wer wen stört, wer wem den Platz wegnimmt und nie darum, was wem nutzt. Scooter stehen stark im Fokus der Kritik, der ÖPNV wird bemeckert, die Fahrradfahrer stören. Dabei ist Straße in der Stadt ja nicht bloß Straße, wie es eine Autobahn ist. In der Stadt oder auf dem Dorf ist Straße Lebensraum, der für alle da sein sollte.

Christine Wenzel, Director Public Policy CEE & DACH bei TIER Mobility


Das Ziel - Smart Cities mit smarter Mobilität - lasse sich nicht erreichen, wenn das Verkehrsdezernat losgelöst vom Umweltdezernat losgelöst von den Unternehmen vor Ort oder der Immobilienwirtschaft agieren. “Für bessere Städte und eine bessere Lebensqualität müssen alle zusammenarbeiten und ihre Silos überwinden. Diesen Diskurs zu begleiten und neue Wege zu gehen macht großen Spaß”, so Wenzel.


Wer nutzt eScooter wann und wofür?

Die eScooter und eMopeds von TIER sowie die Leihräder des Anbieters nextbike, der im November 2021 von Tier gekauft wurde, gibt es auch als Mobility as a Service-Integration in Apps wie Yelbi oder Google Maps.

Auch bei Pilotprojekten wie verkehrsberuhigten oder gleich ganz autofreien Vierteln ist das Unternehmen häufig involviert. “Wir forschen auch sehr viel zum Nutzerverhalten - in internen Research-Abteilungen sowie in Zusammenarbeit mit Hochschulen”, sagt Wenzel. Es gebe entsprechende Kooperationen mit der Uni St. Gallen oder der Hochschule Bochum. “Wir wollen das Nutzerverhalten verstehen und wissen, wer nutzt was warum und wo wollen die hin?”

“Wir arbeiten aktuell an einer Studie, deren Headline auf den ersten Blick lauten könnte: Frauen nutzen weniger Mikromobilitätsangebote.”, erzählt sie. “Aber die Frage ist ja, warum das so ist. Und die Antwort ist leider die, dass ihnen auch die Infrastruktur zu unsicher ist: es geht um fehlende Straßenbeleuchtung aber auch um fehlende Radwege und zu viele große SUVs, mit denen sie sich die Straße teilen müssen.”


Über Unfälle mit eScootern gibt es viele Statistiken und Schlagzeilen. Aber in der Unfallstatistik wird nicht differenziert, ob der eScooter-Fahrer über etwas gestürzt ist, von einem Auto erfasst wurde oder selbst schuld am Unfall ist. Hier wünsche ich mir mehr Sachlichkeit und weniger Emotionalität.

Christine Wenzel, Director Public Policy CEE & DACH bei TIER Mobility


Wenzel sagt: “Als Anbieter ist es immer schwierig auf die Kommunen zuzugehen und zu sagen: “Stadt, jetzt mach mal bessere Radwege”. Wir haben die wissenschaftlichen Daten und arbeiten immer in enger Partnerschaft mit den Städten, aber wir haben natürlich keinen direkten Hebel.”


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