Friederike Ruge ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsfeld Mobilität und Urbanität am IZT in Berlin. Sie sei eine Quereinsteigerin, habe aber trotzdem ihre Nische gefunden: Friederike erforscht Verhaltens- und Denkweisen von Menschen in Bezug auf Mobilität. Sie erzählt, wie vielfältig die Arbeit sein kann und welche Themen mehr Aufmerksamkeit bekommen sollten.
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Women in Mobility: Wie sind Sie zur Mobilitätsforschung gekommen?
Friederike Ruge: Das Interesse an Mobilität an sich wurde durch meinen Vater geweckt, er hat bei Volkswagen gearbeitet. Allerdings habe ich zunächst Bachelor Hispanistik und Ethnologie studiert. Während meines Auslandspraktikums bei einem Zulieferer von Volkswagen in Argentinien habe ich gemerkt, dass meine Interessen mehr bei den Menschen liegen, vor allem auf ihren Verhaltens- und Denkweisen. Während meines Bachelorstudiums arbeitete ich als studentische Mitarbeiterin bei der Metropolregion Hannover Braunschweig Göttingen Wolfsburg in dem Team, welches die damals größte kommunale E-Flotten in Europa aufgebaut hat.
Den Spaß an der Forschung habe ich im Masterstudium an der Freien Universität in Berlin entdeckt. Ich war dort auch als studentische Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie tätig. So habe ich das Handwerk der qualitativen Forschung gelernt.
Was heißt qualitative Forschung?
Im Vergleich zur quantitativen Forschung hat die qualitative Forschung weniger mit repräsentativen Zahlen und standardisierten Daten und Zahlen zu tun, sondern bezieht sich auf subjektive Verhaltensweisen, also Erfahrungen und Meinungen von Menschen. Während meines Forschungssemesters in Guatemala durfte ich beispielsweise die Arbeit und Familienkonstellationen von Frauen, die Lebensmittel und Speisen auf einem lokalen Markt verkaufen, miterleben, beobachten und gemeinsam mit ihnen besprechen. Mich interessierte vor allem ihre komplexe Lebenswelt und ihre detailreichen Geschichten.
Damit ist dort mein Interesse an der Forschung noch mehr gestiegen.
Ihr Studium hatte also nichts mit Mobilität zu tun, richtig?
Nein, im Studium hatte ich keinen Kurs über Mobilität oder Verkehrswesen. Ich bin in diesem Sinne Quereinsteigerin. Das Thema Mobilität war bei mir, wie erwähnt, schon von klein auf präsent. Mobilität ist super facettenreich. Und so habe ich vor allem in der Verbindung der Verhaltens- und Denkweise von Menschen und Mobilität meine Nische gefunden. Über einige Umwegen kam ich nach dem Studium zum IZT - Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung. Hier war ich zunächst im Bereich Wissenschaftskommunikation tätig und bin im April letzten Jahres vollständig in die Forschung gewechselt.
Das IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung gemeinnützige GmbH ist eine unabhängige Forschungseinrichtung mit Sitz in Berlin. Seit mehr als 40 Jahren adressiert das IZT die großen gesellschaftlichen Herausforderungen mit Blick auf die notwendige tiefgreifende Transformation der Gesellschaft und ist der Nachhaltigkeit und der Gestaltbarkeit von Zukünften verpflichtet. Als gemeinwohlorientierte inter- und transdisziplinäre Forschungseinrichtung integriert das IZT die wissenschaftlichen Möglichkeiten der Zukunftsforschung, gesellschafts- und naturwissenschaftliche Expertise sowie Praxiswissen. Der Fokus des IZT liegt auf einer holistischen Herangehensweise sowie dem Vorausdenken in Alternativen und Optionen. Die Themenbreite wird durch eine tiefe inhaltliche Expertise in zentralen Transformationsfeldern wie Bildung, Energie, Gesundheit, Mobilität und Ressourcen sowie ein umfangreiches Methodenwissen ergänzt. Seit September 2013 gehört das IZT dem Konsortium an, das für das Büro für Technikfolgen-Abschätzung (TAB) beim Deutschen Bundestag verantwortlich ist.
Und wie eignen Sie sich das fachliche Wissen über Mobilität an?
Ganz divers. Eigenlektüre, Besuch von Konferenzen, Workshops oder auch Austausch mit anderen WissenschaftlerInnen. Es gibt mittlerweile viele Wege, sich fortzubilden, auch ohne klassisches Studium. Die Lust auf die Materie muss allerdings dabei sein. Und vielleicht auch ein bisschen Zufall? Oder einfach nur eine gute Mischung aus beidem.
Was gefällt Ihnen so an der Forschung?
Ich tauche in andere Welten ein, ich suche Informationen, analysiere. Das hat mir immer schon total gefallen und gefällt mir bis heute sehr gut. Die Arbeit ist inspirierend und kreativ fordernd.
Wie sieht ein Forschungstag aus?
Ich arbeite mehrheitlich mobil. Zweimal im Monat bin ich in Berlin am IZT präsent - entweder für Workshops oder für den Austausch mit anderen KollegInnen. Im Forschungsteam sprechen wir uns regelmäßig über aktuelle Anliegen ab und dann geht es in die Projektarbeit. Ich selbst arbeite derzeit an drei Vorhaben unterschiedlicher Größenordnung - das ist immer Projekt- oder Auftrag-/Zuwendungsgeber spezifisch. Unsere Vorhaben dauern in der Regel zwei bis drei Jahre – manchmal aber auch nur ein halbes Jahr. Die Zuwendungsgeber bzw. Auftraggeber sind ebenso divers – Stiftungen und Umweltverbände, Unternehmen aber auch Ministerien und Kommunen. Das wirkt sich entsprechend auf die Projektarbeit aus.
Welche Tätigkeiten haben Sie innerhalb eines Projekts?
Das ist ebenfalls sehr divers. Die meisten Vorhaben beginnen mit Recherche, lesen, sich einarbeiten, um auf den aktuellen Stand der Forschung zu kommen. Auch geht es darum, die passende Forschungsmethode zu finden. Bei der inhaltlichen Arbeit führen wir interne Meetings für den Meinungs- und Wissensaustausch. Und dann gibt es natürlich die Schreibarbeiten, wenn beispielsweise die Ergebnisse zusammengefasst oder verglichen werden - Berichte, Publikationen, Präsentationen. Der andere Teil der Tätigkeiten ist administrativ, gängige Projektarbeit und Koordination. Gerade eben habe ich zum Beispiel nebenbei ein Catering organisiert, also gibt es auch die nicht gerade „wissenschaftlichen“ Aufgaben.
Sie sitzen also nicht den ganzen Tag am PC und recherchieren.
Das ist nur ein Teil. Die Arbeit selbst ist wirklich vielseitig. Je nach Vorhaben reist man zu verschiedenen Treffen mit bspw. ProjektpartnerInnen, es gibt unterschiedliche Veranstaltungen, man führt Interviews, besucht Konferenzen, usw. Aber natürlich gibt es – wie ich vorhin schon beschrieben habe, die ganz klassische Schreibtischarbeit. Für mich persönlich ist die Vielfalt meiner Arbeit wichtig - ich bin nicht der Mensch, der gerne nur am PC sitzt, ich muss mich auch zwischendurch bewegen und in den menschlichen Austausch gehen. Deswegen liegen mir die praxisorientierten Projekte besonders am Herzen. Das ist aber eine persönliche Vorliebe. Für jemanden, der/die gerne aktiver sein möchte, ist es vielleicht nicht der passende Beruf bzw. man muss Gestaltungsräume haben.
Nutzerzentrierte, sozial-gerechte, nachhaltige Mobilität
Welche Themen erforschen Sie jetzt?
In unseren Vorhaben beschäftigen wir uns beispielsweise mit der Konzeption von zukünftigen Mobilitätslösungen. Es geht um die künftige Gestaltung neuer Mobilitätsangebote bzw. Verkehrs- und Mobilitätskonzepte. Dabei liegt ein Hauptaugenmerk darauf, die Konzepte zentriert auf die Bedürfnisse der NutzerInnen auszulegen, sie sozial-gerecht und nachhaltig zu gestalten. Darüber hinaus betrachten wir, welche möglichen Auswirkungen derartigen Innovationen in der Zukunft haben könnten: Ist die Idee zukunftsfähig oder entwerfe ich hier gerade etwas, was in zehn Jahren sogar negative Effekte haben könnte? Eine weitere Fragestellung ist z. B. die Implementierung neuer Mobilitätsangebote auf kommunaler Ebene. Wir erforschen, wo Herausforderungen und Erfolgsfaktoren liegen und auf welche Weise Bund und Länder die Kommunen bei der Mobilitätswende unterstützen können.
Wie ist das Vorgehen mit der Zukunftswissenschaft?
Ich selbst bin keine gelernte Zukunftsforscherin – das ist die Expertise von anderen KollegInnen am IZT. Im Grunde beschäftigt sich die Zukunftsforschung mit möglichen, wahrscheinlichen und wünschbaren Entwicklungen in der Zukunft sowie deren Voraussetzungen, Gestaltungsoptionen und Unsicherheiten. Es geht explizit nicht darum, die „Zukunft vorauszusagen“. Vielmehr geht es darum, aufzuzeigen, wie wir unsere Zukunft gestalten möchten bzw. sollten oder sogar „müssen“.
Das heißt, für die Forschung ist Teamarbeit wichtig. Was noch?
Teamarbeit auf jeden Fall, nicht nur intern, sondern auch mit den Projektpartnern oder interdisziplinären ExpertInnen. Durch diese Vielfalt nimmt man auch immer was mit. Es braucht analytisches Denken, Detailfreude und die Fähigkeit, Informationen in größere Kontexte einzubetten. Weiter sind gute Kommunikationsfähigkeit wichtig, sowie Schreiben, Aufbereiten von Information für unterschiedlichste Zielgruppen. Man sollte Lust haben, stets dazuzulernen und sich mit verschiedensten Themen intensiv zu beschäftigen – also Ausdauer ist ebenso wichtig.
Wie sie es beschreiben, klingen solche Projektarbeit auch sehr zeitintensiv. Wie ist es mit der Work-Life- Balance?
Ich habe kurz vor dem Covid-Lockdown am IZT angefangen. Deswegen habe ich die „echte“ Präsenzarbeit vor Ort nur kurz erlebt. Und um ehrlich zu sein, fühle ich mich mit dem mobilen Arbeiten sehr wohl. Da unsere Tätigkeit projektbasiert ist, kann es natürlich manchmal zeitlich intensiver und anspruchsvoll werden, vor allem wenn mehrere Deadlines zusammenlaufen. Dafür sind andere Phasen wieder ruhiger, in denen man Kraft sammeln kann. Insgesamt lässt sich die Tätigkeit hier am Institut recht flexibel gestalten, es gibt unterschiedliche Arbeitszeitmodelle.
Sie sind eine Woman in Mobility. Wie sieht es sonst in Ihrer Umgebung mit Gender Diversity aus?
Bei uns am IZT sieht es sehr gut aus, mehr als die Hälfte der wissenschaftlichen Mitarbeitenden sind Frauen. Die Förderung von Frauen* und Familien in der Wissenschaft wird klar verfolgt. Das merke ich in der Zusammenarbeit mit unserer Geschäftsführung und den ForschungsleiterInnen.
Generell besteht bei Projektpartnern oder Auftraggebern meines Erachtens jedoch ein Muster - je technischer es wird, desto weniger Frauen sind präsent. Doch z. B. in Richtung öffentlicher Verwaltung sind die Arbeitsgruppen wieder gemischter. Die Wissenschaftskommunikation ist eher weiblich dominiert. Natürlich sind das subjektive Erfahrungswerte und da ich noch keine langjährige Erfahrung habe, kann ich nicht vergleichen, ob und wie sich die Lage verändert.
Und die GesprächspartnerInnen bei den Projekten? Keine Frau als Interviewpartnerin zu finden, kann zu einer geringen Kredibilität des Ergebnisses führen.
Es ist mir bisher noch nicht passiert, dass ich keine weiblichen Personen in Projekten für z. B. Interviews finden konnte. Und um beispielsweise passende Referentinnen für Konferenzen zu finden, habe ich die Plattform WiM genutzt.
Also werden die Frauenansichten berücksichtigt.
Das schon. Das Bewusstsein, die Sichtweisen von Frauen* in Forschungsprojekte einzubeziehen, wächst stetig. Was mir aber noch fehlt, sind die Perspektiven von Menschen mit Kindern, Alleinerziehende, Personen mit Behinderungen, nicht binäre Personen, BIPoC, SeniorInnen … also die Diversität im Gesamten. Es gibt so viele unterschiedliche Menschen mit folglich den unterschiedlichsten Mobilitätsbedürfnissen. Die müssen gehört werden. Das wünsche ich mir.
Wie können wir die Situation noch verbessern?
Eben diese unterschiedlichen Mobilitätsbedürfnisse und Vorlieben der NutzerInnen von Mobilitätsangeboten in die Forschungsarbeit mit einzubeziehen. Dazu braucht es die Aufklärungsarbeit und Sensibilisierung der Fachkräfte in der Forschung.
Welche Themen sollen aus Ihrer Sicht mehr erforscht werden und dadurch mehr Aufmerksamkeit bekommen?
Es besteht aus meiner Sicht ein großer Forschungsbedarf im Hinblick auf die ländliche Mobilität. Es ist wichtig, Mobilitätsangebote als Bestandteil der Daseinsvorsorge auch auf dem Land zu verstehen und dort unter der Prämisse der Sozial- und Umweltgerechtigkeit bereitzustellen. Dort gibt es bisher nur bedingt Alternativen zum MIV.
Gleichzeitig interessieren mich auch hier wieder nicht nur neue technische Mobilitätslösungen, sondern auch andere niedrigschwellige Angebote und Lösungen, die man auf sozialer Ebene implementieren kann und wie eben diese angenommen werden. Für mich steht dabei der Mensch im Vordergrund – eben auch mit Blick auf meine Expertise. Wo liegen die Stellschrauben für die Veränderung des Mobilitätsverhaltens? Wie kann ich von diesem auto-geprägten Mindset wegkommen? Wie kann ich den Menschen zeigen, dass eine Mobilitätswende auch für sie Vorteile hat?
Ein anderes Thema, das ich total spannend finde, und welches auch eine Stellschraube für die Mobilitätswende darstellen könnte, sind Nachbarschaftslösungen und die Rolle von Vertrauen und Gemeinschaft in der Mobilität. Hier kann man ganz viel von nicht-europäischen Ländern lernen. Wir sollten öfter über den Tellerrand schauen. Vielleicht brauchen wir keinen autonomen Bus, sondern eine Nachbarschaftslösung.
Mit den nicht-europäischen Ländern meinen Sie Lateinamerika? Sie haben viel Zeit dort verbracht, welche Konzepte oder Ideen könnten wir nach Deutschland mitnehmen?
Genau. Natürlich trifft man in Regionen Lateinamerikas unterschiedliche soziokulturelle Prägungen und Voraussetzungen aller Art vor und kann nicht alles eins zu eins auf Deutschland projizieren. Doch der Ansatz „Ich denke an dich”, das Mitfahren, funktioniert dort in manchen Nachbarschaften ganz gut, auch für kurze Wege - jemanden anrufen, wenn ich eine Fahrt brauche. Oder auch nur beim Einkaufen etwas für die Nachbarin mitnehmen. Dadurch fallen schon Fahrten aus und dies kann große Auswirkungen auf das Verkehrsaufkommen haben.
Was sind Ihre weiteren Pläne? Was möchten Sie mit der Forschungsarbeit erreichen?
Ich bin eine noch relativ junge Mitarbeitende am IZT und möchte erstmal mehr Erfahrungen sammeln, mehr Verantwortung übernehmen und eigene Projekte leiten und akquirieren. Bei uns am Institut ist das Thema Promotion nicht unbedingt ausschlaggebend. Trotzdem habe ich es im Blick, wenn sich dafür die Chance ergibt.
Was die Forschungsmethoden betrifft, möchte ich gerne Methoden der Zukunftsforschung sowie visuelle Methoden stärker in meine Forschung einbringen. Schon im Studium habe ich die visuelle Anthropologie zur Dokumentation und zur Analyse von Forschungsgegenständen schätzen gelernt. Fotos, Videos und Tonaufnahmen können einen großen Mehrwert in die Forschung bringen, auch um sie als kommunikative Mittel zu nutzen.
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