Fokusgruppen sind ein essentielles Werkzeug in der Marktforschung und Produktentwicklung. Das gilt für Produkte und Dienstleistungen überall auf der Welt. Nur in der öffentlichen Mobilität sind sie noch nicht so recht angekommen. Dabei könnten sie auch in der Mobilitätsbranche Vielfalt und Inklusion fördern.
In der Marktforschung und Produktentwicklung sind Fokusgruppen unverzichtbar. Dabei handelt es sich um strukturierte Diskussionen mit einer kleinen, repräsentativen Gruppe, die ihre Meinungen und Erfahrungen zu einem Produkt teilt. Unternehmen nutzen sie, um tiefere Einblicke in die Vorlieben und Bedürfnisse ihrer Zielgruppe zu gewinnen. Besonders in frühen Entwicklungsphasen helfen Fokusgruppen, neue Ideen zu testen, Schwachstellen zu erkennen und direkte Verbesserungen vorzunehmen. Dabei entstehen oft unerwartete Einsichten, die allein durch Umfragen nicht zu Tage treten. Apple nutzt Fokusgruppen bei der Weiterentwicklung des iPhone, Procter & Gamble befragt potenzielle Nutzenden vor der Einführung von neuen Marken wie Swiffer, welche Funktionen und Eigenschaften für sie am wichtigsten sind.
Bei der Einführung von Coca-Cola Zero wurde eine Fokusgruppe eingesetzt, um das Geschmacksprofil und das Marketingkonzept zu testen. Auch wenn Nestlé neue Geschmacksrichtungen für Instant-Nudeln oder Schokoriegel entwickeln möchte, befragt es Fokusgruppen. Gleiches gilt für neue Serien oder Filme bei Netflix: Ohne Fokusgruppenbefragung läuft nichts.
In der Automobilindustrie sieht es ganz ähnlich aus: Kein Autobauer bringt ein neues Modell auf den Markt, ohne vorher ausgiebig erforscht, befragt und getestet zu haben, was die durchaus vielfältige Kundschaft möchte.
Die Bedürfnisse einer vielfältigen Kundschaft abbilden, das geht einfacher, wenn auch die Teams in Unternehmen ebenfalls vielfältig sind. Denn wer keine Kinder hat, kann sich schlecht in Eltern und deren Bedürfnisse hineinversetzen, wer jung und gesund ist, kann sich nur schwer in ältere und körperlich (oder geistig) eingeschränkte Menschen hineinfühlen. Diversität in den Unternehmen ist also nicht nur in der Produktentwicklung internationaler Großkonzerne wichtig. Sie ist auch entscheidend, um Mobilität für alle Menschen zugänglich zu machen. Genau darüber haben Stefanie Pichler (Strategic Stream Lead & Product Manager Mobilitätsplattform der Stadtwerke München), Sabrina Huber (Gleichstellungs- und Diversitybeauftragte der Verkehrsgesellschaft Frankfurt) und Heike Andersen (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Mobilitätsdesign an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach) kürzlich diskutiert. Im Rahmen eines WiM MoveUps erörterten sie die Frage, wie Mobilitätslösungen menschenzentriert, divers und inklusiv gestaltet werden können.
„Mobilität für alle“ war das klare Ziel, das Heike gleich zu Beginn des Gesprächs formulierte. Für sie steht fest: Infrastrukturen müssen so gestaltet werden, dass sie für möglichst viele Menschen nutzbar sind – unabhängig von deren individuellen Voraussetzungen.
„Wenn die Omi mit dem Rollator gut klarkommt, dann wird das System auch für die meisten Menschen funktionieren.“
Heike Andersen, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Offenbach Institut für Mobilitätsdesign
Heike verwies auf positive internationale Beispiele, wie das Fußwegeleitsystem in New York, das vor seiner Umsetzung mit Nutzendentests optimiert wurde. Zusätzlich hob sie die Nanakuma Line in Fukuoka (Japan) hervor, wo neben kurzen, breiten, hellen Wegen oder Automaten, die für Menschen aller Größen gut bedienbar sind, auch inklusiv gestaltete Informationssysteme und viele weitere Details ein ganzheitliches Verständnis demonstrieren."Diese Linie hat in jedem Fall Modellcharakter für Japan und die Welt hinsichtlich inklusiver Gestaltung", sagt sie. „Ziel sollte es immer sein, Systeme universell zu gestalten.“
Dazu gehöre auch, Nutzende so früh wie möglich in die Planung einzubinden: „Was ist das Ziel aus Sicht der Nutzenden? Das muss von Anfang an gefragt werden.“
Die Rolle der Diversität in der Produktentwicklung
Stefanie griff den Gedanken der frühen Einbindung auf und lenkte das Gespräch auf die Produktentwicklung. Für sie ist Diversität im Team nicht nur ein Nice-to-Have, sondern eine Notwendigkeit. „Wer entwickelt eigentlich Apps? Überwiegend männlich gelesene Personen“, sagte sie. Das sei problematisch, da jede*r bei der Entwicklung von digitalen Produkten stark von den eigenen Erfahrungen ausgehe. „Je ähnlicher sich die Menschen in der Produktentwicklung sind, desto schlechter ist das Ergebnis“, stellte sie klar.
Neben diversen Teams und Fokusgruppen ist auch das Feedback der Nutzenden eine Möglichkeit, unterschiedliche Bedürfnisse zu berücksichtigen und bei den Produkten nachzusteuern, da bestehende Daten oft lückenhaft und veraltet sind. Ein Beispiel aus der Praxis führt Stefanie an: „In München nutzt über eine Million Menschen unsere Mobilitätsplattform, und immer wieder gibt es Rückmeldungen, die uns helfen das Produkt besser zu machen. App übergreifend sind die unterschiedlich hinterlegten Gehgeschwindigkeiten ein Problem für viele Nutzenden. Hier könnte man über individuelle Einstellungen die Planbarkeit der Wege erhöhen.“
Sabrina, die sich auf Diversität und Inklusion im Sinne der Teilhabe aller Menschen spezialisiert hat, brachte das Thema Intersektionalität ins Gespräch. „Wir dürfen Diversität nicht eindimensional betrachten“, erklärte sie. Oft gehe es nicht nur um eine bestimmte Eigenschaft oder Dimension, sondern um das Zusammenspiel verschiedener Faktoren – Geschlecht, ethnische Herkunft, Alter und mehr. Sie betonte, dass es wichtig sei, diese Vielfalt schon in der Planungsphase zu berücksichtigen.
Sabrina sprach auch über das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und verdeutlichte, dass barrierefreie Lösungen nicht nur für bestimmte Gruppen nützlich sind. „Genauso wie von Aufzügen nicht nur Rollstuhlfahrende profitieren, sondern auch Menschen mit Kinderwagen oder schwerem Gepäck, so sind barrierefreie Touchscreens für alle besser, da sie z.B. durch einen höheren Kontrast auch bei starker Sonneneinstrahlung lesbar sind.“ Letztlich sei das Ziel all der Maßnahmen Mobilität und damit gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.
Kreative Beispiele aus Italien und Japan
Neben den strukturellen und technologischen Aspekten der Mobilitätsplanung kamen auch kreative Lösungen zur Sprache. Teilnehmerinnen an der Veranstaltung in Offenbach berichteten zum Beispiel von einem interessanten Projekt aus Tokio, bei dem ein Komponist spezielle Geräusche für U-Bahnstationen komponierte, um ihnen eine eigene Identität zu verleihen. „Das ist ein großartiges Beispiel dafür, wie wir Mobilität emotionaler und erfahrbarer gestalten können“, sagte die Teilnehmerin.
Eine andere berichtete von Bahnhöfen und U-Bahnstationen in Brescia (Italien), die künstlerisch gestaltet und für kulturelle Veranstaltungen wie Konzerte genutzt werden. Diese kreative Herangehensweise an den öffentlichen Raum trage nicht nur zur Verbesserung der Aufenthaltsqualität bei, sondern mache Mobilität zu einem Erlebnis.
Das Gespräch hat gezeigt, wie wichtig es ist, miteinander in den Austausch zu gehen, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und einzubeziehen, um Mobilitätslösungen möglichst allen zugänglich zu machen. Dabei gilt es immer wieder, unsere Sichtweise in Frage zu stellen sowie offen und neugierig zu voneinander zu lernen.
Klaus Krückemeyer, Moderator beim Hessischen Rundfunk
Auch das Thema Sicherheit war ein wichtiger Aspekt. „Sicherheitsbedürfnisse sind in der Mobilitätsplanung zentral“, betonte Sabrina und sprach von Maßnahmen wie besserer Beleuchtung, mehr Sitzmöglichkeiten, Spiegeln oder der Gestaltung von Plätzen mit Einsichtmöglichkeiten durch kurvige Bauweisen. So werde der öffentliche Raum nicht nur sicherer, sondern auch attraktiver. Und nur dann werden auch mehr Menschen bereit sein, zu Fuß zu gehen, mit dem Rad zu fahren oder den ÖPNV zu nutzen.
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