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Sicherheit ist auch eine Form der Nachhaltigkeit

Unsere Mobilmacherin der Woche ist Unfallforscherin an der TU Graz. Corina Klug simuliert mit virtuellen Menschmodellen statt mit Crashtest-Dummies Unfälle. Ihr Wunsch: eine europaweite Datenbank von Unfalldaten und eine längere Finanzierung von erfolgreichen Forschungsprojekten.


© TU Graz/FOTOGENIA


Unsere Mobilmacherin der Woche sorgt dafür, dass weniger Menschen bei Verkehrsunfällen schwer verletzt werden. Corina Klug forscht an der TU Graz im Bereich der Unfallvermeidung und Verletzungsprävention. Sie untersucht, welche Verletzungen sich Fußgänger:innen und Radfahrende bei einem Zusammenstoß mit einem PKW zuziehen und wie sich Unfälle auf die Menschen im Auto auswirken. Außerdem untersucht sie, welche Verletzungen sich stehende Fahrgäste in Bussen und Bahnen zuziehen können, wenn das Fahrzeug bremst, beschleunigt oder um eine Kurve fährt. Sie habe auch schon in einem Forschungsprojekt zu Freizeitunfällen, konkret: Rodelunfällen, mitgearbeitet. „Das war auch ein interessantes Thema: es ist auch schnell, dynamisch und jemand bricht sich etwas, insofern kann man die gleichen Methoden anwenden wie bei Verkehrsunfällen“, sagt sie und lacht.

Die Methode, die sie anwendet sind virtuelle Simulationen von Unfällen mit detaillierten, anatomisch korrekten Menschenmodellen. Und zwar verschiedener Körpertypen. Das unterscheidet ihre Arbeit von den klassischen Crashtests.


„Wir bräuchten ganze Armeen von unterschiedlichen Crashtest-Dummies um abbilden zu können, welche Verletzungen sich Menschen bei einem Unfall zuziehen können. Ein Dummy kann Verletzungen immer nur vereinfach abbilden, weil dieser möglichst viele Tests überstehen soll und entsprechend robust gebaut ist. Er ist ein stark vereinfachtes, technisches Abbild eines Menschen. Virtuell können wir echte Menschen mit allen anatomischen Details nachbilden: mit Gelenken, Bändern und unterschiedlich dicken Knochen.

Corina Klug, Unfallforscherin und Assistenz Professorin an der ZU Graz


Dank Beschleunigungssensoren im Kopf der physischen Crashtest-Dummies lässt sich zwar berechnen, um wie viel Prozent das Risiko einer schweren Kopfverletzung bei einem bestimmten Unfallhergang steigt. Im virtuellen Modell lässt sich darüber hinaus noch bestimmen, wie hoch das Risiko für eine Verletzung des Schädels und wie hoch das Risiko für eine Verletzung des Gehirns ist. Auch Dehnungen in den Knochen und Gelenken lassen sich darstellen und so Brüche vorhersagen.

© TU Graz/VSI


Dabei sah es am Anfang ihrer Karriere eher danach aus, als würde Corina in die Entwicklung von U-Bahnen einsteigen. Sie studierte Maschinenbau an der TU Graz und arbeitete seit ihrem vierten Semester als Werkstudentin bei Siemens in der Sparte Schienenfahrzeuge. Bereich: Innovation und Vorentwicklung von U-Bahnen.

Weil sie fast ihr gesamtes Studium in diesem Fachbereich verbrachte, habe sie sich gesagt, es sei sinnvoll, sich für die Diplomarbeit nochmal etwas anderes anzuschauen. An ihrem Institut sei zu diesem Zeitpunkt ein Thema für eine Diplomarbeit ausgeschrieben worden: die Modellierung der Flüssigkeit zwischen Hirn und Schädel. „Weil mich Medizin auch sehr interessiert hat, habe ich mich dafür entschieden, über dieses Thema in die Biomechanik einzusteigen“, sagt Corina.


Seitdem hat mich das Thema: Ich habe mich in der Biomechanik-Community gleich sehr wohl gefühlt. Das sind ideologisch getriebene Menschen, denen es darum geht, besser zu verstehen, wie Verletzungen entstehen. Um sie so besser vermeiden zu können.

Corina Klug, Unfallforscherin und Assistenzprofessorin an der TU Graz


Ihre Dissertation habe sie dann über den Schutz von vulnerablen Verkehrsteilnehmer:innen, also Radfahrende sowie Fußgänger und Fußgängerinnen geschrieben. Dabei habe sie sich darauf fokussiert, wie man durch Computersimulationen von Unfällen mit diesen Personen Fahrzeuge sicherer gestalten kann. Damit nicht nur die Menschen im Auto bei einem Unfall möglichst unverletzt bleiben, sondern auch die außerhalb des Fahrzeugs. Denn die Zahl der Straßenverkehrsunfälle mit (Schwer-)Verletzten geht zwar kontinuierlich zurück. Allerdings gilt das nicht für alle Verkehrsteilnehmer.

Für diese Arbeit habe sie erstmals mit virtuellen Tests gearbeitet, bei denen sie am Computer simulierte, was mit unterschiedlichen Verkehrsteilnehmern mit unterschiedlichen Staturen bei einem Unfall geschieht. Und wie sich die Position der Personen auf die Schwere der Verletzungen auswirkt. „Das war einer der ersten Anwendungsfälle für ein virtuellen Menschenmodells in einer Rating-Applikation. Diese Prozedur, die wir entwickelt haben, wird von der European New Car Assessment Programme (Euro NCAP) jetzt auch für die Bewertung von aktiven Motorhauben umgesetzt“, sagt Corina.

© TU Graz/VSI


Zum Ende ihrer Dissertation ist sie in das EU-Projekt VIRTUAL eingestiegen, in dessen Rahmen auch das erste Menschmodell einer „Durchschnittsfrau“ entwickelt wurde, deren Geometrie und Knochenformen auf statistischen Modellen basiert. Mit dabei: die schwedische Ingenieurin und Professorin im Bereich der Verkehrssicherheit, Astrid Linder. „Sie arbeitet seit 20 Jahren daran, einen Crashtest-Dummy, der die Durchschnittsfrau repräsentiert, in Fahrzeugtests unterzubringen. Was nicht ganz so einfach ist. In Virtual haben wir Open-Source Menschmodelle von Durchschnittsmann und –frau entwickelt, sowie dummy-ähnliche „Seat evaluation tools“ zur Validierung von virtuellen Sitzmodellen entwickelt.“, sagt Corina.

„Astrid Linders Thema ist Geschlechtergerechtigkeit in der Fahrzeugsicherheit speziell für die sogenannten Whiplash Associated Disorders, also die Schleudertrauma-assoziierten Verletzungen die klassischerweise mit einem Heckanprall verbunden sind.“

Corina Klug, Unfallforscherin und Assistenzprofessorin an der TU Graz


Dass es mit dem weiblichen Crashtest-Dummy so lange gedauert habe, habe verschiedene Gründe:

Fehlende Zahlen: Um Unfälle und Verletzungsrisiko einzelner Geschlechter miteinander vergleichen zu können, bräuchte man einen großen, Europa weiten Datenpool. „Wir in Österreich haben die CEDATU - Central Database for In-Depth Accident Study. In Deutschland gibt’s die GIDAS. Aber es gibt keine europaweit harmonisierte, detaillierte Unfalldatenbank“, sagt sie. Hinzu kommt: Unfälle sind nicht vergleichbar. Die Fahrzeuge variieren von Typ, Alter, Laufleistung, Ausstattung und Zustand. Die betroffenen Personen sind unterschiedlich groß, alt, gesund, dick oder dünn und auch die äußeren Unfallparameter – Licht, Witterung, Bodenverhältnisse, Aufprallwinkel -unterscheiden sich jedes Mal. Das macht die Vergleichbarkeit schwierig – was die Argumentation für weibliche Crashtest-Dummies schwer macht. „Es gibt einfach wenige Fälle, wo eine Frau genau den gleichen Unfall gehabt hat wie ein Mann. Das ist meistens das Argument“, sagt Corina.


Kosten: Man hat sich auf drei Standardgröße für Crashtest-Dummies geeinigt – in der Hoffnung, dass die für alle passt. Der meistverwendete Dummy ist der sogenannte 50 Percentil-Mann. „In den ersten Studien hat es auch eine 50 Perzentil-Frau gegeben. Aber weil sich die beiden von Körpergröße und Gewicht so ähnlich waren, hat man sich, um Ressourcen zu sparen, nur auf den 50 Perzentil-Mann, die 5% Frau und den 95% Mann fokussiert.


Auslaufende Forschungsprojekte: „Von der EU geförderte Projekte wie das VIRTUAL-Projekt laufen nach drei bis vier Jahren aus“, erklärt Corina. „Es etablieren sich Partnerschaften und man entwickelt gute Modelle und alles läuft – und dann kommt der Cut. Dann kann man Glück haben und ein weiteres Funding bekommen, damit das Projekt weiter gehen kann. Oder es läuft einfach aus.“ Deshalb habe sich die Arbeit an der Sicherheitsbewertung für „Durchschnittsfrauen“ von Linder fast 20 Jahre lang hingezogen. „Es wäre schön, wenn wir in Europa die Möglichkeit hätten, erfolgreiche Projekte zu verlängern“, sagt Corina.


Glücklicherweise gibt es auch immer wieder Finanzierungen solcher Forschungsaktivitäten durch Fahrzeughersteller. Allgemein ist es aktuell schwierig öffentliche Förderungen zum Thema Sicherheit zu erhalten. Das findet Corina schade, weil „ich glaube, dass wir nicht mehr weit weg sind von dem Ziel virtuell die Robustheit von Fahrzeugen bezüglich des Schutzes verschiedener Anthropometries zu bewerten.“

Unfälle und Fahrzeugsicherheit seien jedoch aktuell keine sexy Themen. Momentan stünden der Klimawandel und nachhaltige Antriebstechnologien bei Interesse eher Mittelpunkt. „Diese Themen sind natürlich äußerst relevant. Trotzdem sollte man auf die Sicherheit nicht vergessen. Durch umweltfreundliche Fahrzeuge ändern wir noch nichts an der Anzahl an Menschen die im Straßenverkehr sterben oder sich schwer verletzen“, sagt sie.


„Sicherheit ist auch eine Form der Nachhaltigkeit und sollte daher weiterhin im Fokus bleiben.“

Corina Klug, Unfallforscherin und Assistenzprofessorin an der TU Graz


Immerhin: Mittlerweile seien Geschlechtsunterschiede bei Unfällen überall ein Thema. „Aber es gibt unterschiedliche Ansichten, wie viele Anatomieunterschiede man in den Sicherheitstest berücksichtigen muss, um ein für alle sicheres Auto zu designen. Das ist ein spannendes Forschungsthema“

Auch deshalb sind alle Erkenntnisse aus dem letzten großen Forschungsprojekt offen und kostenlos verfügbar: „Bei dem Virtual-Projekt haben wir wirklich alles, was wir gemacht haben, auf einem Gitlab-Server abgelegt. Das ist für jeden zugänglich. Auch die Menschmodelle von der Durchschnittsfrau und dem Durchschnittsmann. Die kann jeder gratis einsetzen.“

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